Als sich vor 30 Jahren die Nachrichten über den kleinen Ort in Texas überschlugen, war ich mit meiner Familie in den USA in der Endphase meiner Promotion. Und langsam, sehr langsam dämmerte mir, worum es sich bei Waco handelte.

 

Ein paar Jahre zuvor - Mauerfall in Berlin - war der Come Alive Choir, ein Gospelchor der Adventgemeinde Manchester eingeladen worden, hat ein Konzert für West- und Ostberliner gegeben, wunderbares Zeugnis eines lebendigen Glaubens, ansteckender Freude und Lebendigkeit. Der Konzertsaal in der Bundesallee in Berlin-Wilmersdorf erbebte förmlich unter dem "Ride on, King Jesus".

Etwa ein Jahr später berichtete mir mein Schwiegervater, damals Gemeindeältester in Manchester, von merkwürdig langen Bibelstunden, die ein Gast aus den USA hielt, die die jungen Leute - etliche aus dem Come Alive Choir - begeisterten, in den Bann zogen. Es schien ja alles sehr gut biblisch begründet, fest verwurzelt in adventistischer Gemeindetradition. Aber irgendwie ... war es doch auch komisch. Selbst der damalige Jugendpastor der Gemeinde konnte, wie er  heute bekennt, nicht wirklich den "Fehler" finden, war ratlos.  Radikale Nachfolge ist doch, was sich Christen nur wünschen können! "Nachfolge" hieß dann allerdings sehr bald auch, sich (bzw. seine Partnerin) sexuell einem Mann zu überlassen, Familienbande zu kappen und schließlich in die USA zu gehen, um sich am "Mount Carmel" (einer Ranch in Waco), ganz auf das jüngste Gericht, den letzten großen Kampf vorzubereiten - mit großen Waffenarsenalen, sozialer Isolation nach außen, klaren Regeln nach innen, insbesondere schwerer sexueller Übergriffe - auch auf Kinder und Jugendliche. Vieles davon trat erst nach dem 19. April 1993 ans Licht der Öffentlichkeit, als die 51 tägige Belagerung der Ranch in einem riesigen Flammeninferno mit über 80 Toten endete.

Etliche meiner Freunde aus dem Come Alive Choir starben in dem Feuer.

Meine Freikirche war verständlicher Weise um Schadensbegrenzung bemüht.  Die Branch Davidians waren ja eine Abspaltung einer Abspaltung von den Siebenten-Tags-Adventisten, die in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts begann. So ließ sich 1993 mit Fug und Recht klarstellen, dass David Koresh nichts mit der Adventgemeinde zu tun hatte und ganz sicher die Adventgemeinde nichts mit ihm (und seiner Sekte) gemein hatte. Weniger Aufmerksamkeit wurde darauf gelenkt, dass Vernon Howell alias David Koresh (den Namen hatte er sich selbst zugelegt, in Anspielung auf biblische Prophetien) und dass die meisten Todesopfer in Waco (man geht von 90% aus) bis zu ihrem Umzug nach Waco treue Adventisten waren, wollte man am liebsten ganz aus den Medien fern halten.

Jetzt, 30 Jahre später, hat sich offenbar etwas grundlegend geändert.  Adventistische Medien berichten in auffälliger Breite und Intensität über die Ereignisse von damals. Die British Union Conference (adventistische Verwaltungseinheit für das Vereinigte Königreich), gemeinsam mit übergeordneten Trans-European Division und meiner alma mater Newbold College haben nicht nur zahlreiche Berichte veröffentlicht, sondern sogar einen großen Gedenkgottesdienst gehalten. Das Bemühen einer historischen Aufarbeitung ist überdeutlich ... und überfällig. Es ist einer der im Augenblick seltenen Augenblicken, in denen ich tatsächlich stolz auf meine Freikirche bin. Sie stellt sich einem dunklen Trauma in ihrer Geschichte, erlaubt sich, zu trauern, aber auch zu hinterfragen.

Wie konnte es dazu kommen, dass sich tiefgläubige, in der Bibel verwurzelte Menschen sich einem solch aberwitzigen Kult anschlossen?  In wiefern waren gerade Adventisten für die Apokalypsedeutungen anfällig?  Wie konnten die deutlichen Hinweise, wie Forderung sexueller Enthaltsamkeit für Männer, bei gleichzeitiger "Freigabe" ihrer Partnerinnen an Vernon Howell, übersehen werden? Und 30 Jahre danach entscheidender: sind wir auch heute noch verführbar? Haben wir gelernt? Wie halten wir es mit der Freiheit des Christenmenschen? Meine Befürchtung ist ... die David Koreshs sind nicht mehr nur "da draußen" ... Forderungen nach Autoritätshörigkeit, Unterordnung unter "Führungspersonen",  Übernahme selbst absurder Auslegungen der Bibel, nach Verleugnung der eigenen sexuellen Identität, bei gleichzeitigem Schweigen zu sexueller Gewalt in den eigenen Reihen ... all das kommt mir doch sehr bekannt vor ... und lässt mich für die Mahnung von Waco dankbar sein.

 

 

Foto: FBI, Public domain, via Wikimedia Commons