Ich wache auf, brumme, stöhne, töne, gebe Laute von mir - in unterschiedlichen Tonlagen. Mit der Zeit reihen sich die Töne aneinder, formen eine Melodie. Und plötzlich summe ich eine Melodie und lasse Textfragmente durch mein Hirn flitzen, bis das ganze Lied da ist.
Weit über 50 Jahre, so schätze ich, habe ich dieses Lied nicht mehr gehört, geschweige denn gesungen. Lieder haben - wie alles im Leben - ihre Zeit. In meiner Kindheit wurde das Lied oft im Gottesdienst gesungen . Die Erinnerung an den Text kommt nach und nach, Stück für Stück. Verstanden habe ich den Text als Kind ganz sicher nicht. Es ist ja jetzt noch schwer. Aber ich konnte ihn auswendig - wie so viele Lieder, ganz selbstverständlich, weil diese Lieder häufig gesungen wurden.
Die ersten Fragment sprachen von verhärtetem Gemüte, sogar von erstickt. Zum ersten Mal überhaupt ahnte ich, dass das Lied aus ganz vielen Fragen bestand. Ist's nicht dein Arm, der alles schafft? Auch die Frage des Titels kommt vor: Wer lässt mich so viel Glück genießen? Zwischendrin sogar fast trotzig - und für pietistisch geprägte Menschen höchst provokativ: Du hast ein Recht zu diesen Freuden! Echt jetzt? Durch Gottes Güte sind sie dein. Das Ende des Liedes schließlich macht das Alter deutlich ... die alten Choräle konnten nicht ohne den Gedanken an den Tod enden. Dort wird Gottes Güte und Liebe besungen und lässt das Lied so enden: besieg in meinem Herzen die Furcht des letzten Augenblicks.
Kenner der alten Schule dürften das Lied längst erkannt haben, das mir heute im Wachwerden in den Sinn kam. Auch eine Frage, natürlich. Wie groß ist des Allmächt'gen Güte? Der Text von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769). Alt ist der gute Mann nicht gerade geworden und merke gerade, dass Dankbarkeit keine Frage des Alters, der Anhäufung von Lebensjahren oder gar Dingen ist. Seine Geschichte liest sich aus heutiger Perspektive wenig ... wie soll ich sagen ... reizvoll (er war schlicht Professor,... Moralphilosoph). Und doch hat mich die Glaubenstiefe des Textes dieses Liedes heute bewegt.
Das Lied hat mich an meine Kindheitsgemeinde in Reinickendorf erinnert. Ganz bestimmte Namen längst vergessener Menschen kamen mir ins Gedächtnis. Ich staune über die Wunderwerke des menschlichen Hirns, das Vermögen des Langzeitgedächtnisses und der heutigen Möglichkeiten, Lieder schließlich im Internet zu finden, die kaum noch jemand singt. Hier eine Fassung, wie sie Chöre damals - in meiner Kindheit - wohl gesungen hätten:
Hier noch eine wunderschöne Bläserfassung.
Am meisten aber staune ich über die Liebe und Güte Gottes, die da besungen wird. Klar, schaut man genau hin, klingt der Text nach einem Moralphilosophen ... aber das macht den Text keineswegs falsch...:
Nein, seine Liebe zu ermessen,
sei ewig meine größte Pflicht.
Der Herr hat mein noch nie vergessen;
vergiss, mein Herz, auch seiner nicht!
