Meine Enkelkinder sind später nach dem Mauerfall geboren, als ich nach dem zweiten Weltkrieg. Diese Erkenntnis hat mich zum Nachdenken gebracht.
Der Tag der deutschen Einheit spült bei mir viele Erinnerungen hoch: den Geruch der Ost-Berliner S-Bahn, den Klang von Kinderradio Knirpsenstadt, den Anblick von Panzersperren und Stacheldraht, wenn ich als West-Berliner über die Mauer ins „gelobte Land“ hinüberschaute. Alles präsent – und doch so lange her. Meinen Enkeln sagt das alles herzlich wenig.
Ähnlich mag es der Kriegsgeneration gegangen sein, für die der Krieg präsent war, als wäre es gestern gewesen, während ich nur in Geschichtsbüchern blättern und das Elend des zerbombten Berlins ungläubig staunend nachzuvollziehen versuchen konnte. Auch das wohl herzlich wenig.
Welche Bedeutung haben solche Feiertage – endlich mal ein nichtkirchlicher und damit echter freier Tag, wie Pastorin Claudia betont? Welche Bedeutung haben solche Feiertage für Menschen, die gar nicht dabei waren? Kann man denn vergessen, was man gar nicht erlebt hat?
Die Begeisterung für Krieg zur Lösung von Konflikten, die leise und mit anscheinend guten Begründungen bei vielen gewachsen ist, lässt die Realitäten der Erfahrung im Nebel der Geschichte verschwinden. Die Behauptungen von Zensur und Lügenpresse lassen vergessen, was Zensur und Propaganda im real existierenden Sozialismus wirklich bedeuteten. „Und dennoch sind da Wände zwischen Menschen“ hieß es in einem Kirchenlied in DDR Liederbüchern. Das Original der gleichen Strophe lautete „Und dennoch sind da Mauern zwischen Menschen“ … die Aussage war die gleiche, aber die möglichen Assoziationen nicht. Und wollte eine Kirchengemeinde Einladungen für eine Veranstaltung drucken, musste der Inhalt nicht nur von staatlichen Stellen genehmigt werden, sondern wurde das Druckerzeugnis auch limitiert. Es gehörte schon Mut dazu, sich in der Druckerei zu „verzählen“, damit ein paar mehr Einladungen zur Verfügung standen.
Dafür aber standen große Parolen auf Spruchbändern, die zwar die meisten heimlich für lächerlich hielten, deren Ernsthaftigkeit aber immer wieder betont wurde. „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“ war nicht etwa Satire, als die sie heute wahrgenommen wird.
Wider das Vergessen … das ist mir wichtig. Erinnerungen an meine Mutter, die von den Nächten im Luftschutzkeller, dem Pfeifen der Bomben vor dem Einschlag, der Angst, den Bildern erzählte, haben mich geprägt, zu einem Gegner von Krieg und Gewalt werden lassen. Die für mich als West-Berliner weit weniger dramatischen Erinnerungen an die DDR möchte ich meinen Enkeln weitergeben, in der Hoffnung, dass sie sich für Freiheit und Demokratie stark machen und den Propagandisten von heute nicht auf den Leim gehen.
Wider das Vergessen … ist für mich auch zutiefst christlich. „Zu meinem Gedächtnis,“ ist eine Formulierung aus der Abendmahlsliturgie. Tatsächlich gibt es in der jüdisch-christlichen Tradition zahlreiche Erinnerungsfeste wider das Vergessen. Und die Kinder, die das „nicht zu Vergessende“ gar nicht erlebt hatten, waren eingeladen, zu fragen, was es denn auf sich hatte mit dem Fest und der Erinnerung. So konnte erzählt werden, erinnert werden … die Größe und Liebe Gottes für diese Welt.