Was für ein Tag! Erinnerungen. Emotionen. Abschiedsgedanken und Schlaf.
Unerwartet kam heute Morgen der Anruf, dass eine Freundin unserer Familie gestern gestorben ist.
Als Kind waren schon unsere Eltern befreundet, im Urlaub verbrachten wir immer Zeit miteinander, und die Entfernung konnten wir auch ohne Internet per Telefon und Briefen überbrücken.
Vor gut einem Jahr starb ihre Mutter – ein Anlass mal wieder mehr miteinander auszutauschen. Jetzt per Videochat und Textnachrichten. Meine Mutter starb bereits vor fast dreißig Jahren, ihr Vater im Jahr davor. Als mein Vater starb und wir älter wurden, verloren wir uns aus den Augen. Der Kontakt schlief ein. Hin und wieder gingen über ihre Mutter oder meine Geschwister noch Grüße hin und her.
Wir beide waren ein Jahrgang. Ich habe gerade meinen 50. Geburtstag groß gefeiert – sie selbst ist nun mit 49 Jahren gestorben. Die Feier im Sommer bleibt aus. Trotz der Entfernung und dem losen Kontakt der letzten Jahre, berührt mich die Nachricht sehr. Ich bin geschockt, kann die Nachrichten am Telefon gar nicht alle aufnehmen und fassen. Danach muss ich mich erstmal sortieren. Mir Zeit nehmen. Abschied nehmen. Ich lasse Andreas meinen Termin heute Morgen absagen. Mittags stelle ich die Frage, warum wir so wenig „Abschied geben“ sagen. Er erinnert mich an „farewell-parties“, jemand gibt seinen Abschied. Ausstand feiern, fällt mir ein. Bewusst einen Lebensabschnitt beenden und feiern. Das tat ich bei Umzügen und Ortswechseln, auch nach bestandenen Prüfungen, wie dem Abitur. Im Zusammenhang mit Hochzeiten fällt mir auch noch der Junggesellen-Abschied ein. Und selbst mit meinem 50. Geburtstag habe ich mein Erlassjahr beendet und bin bewusst in ein neues Lebensjahrzehnt eingetreten und das Leben gefeiert. Lebe! So sagen wir es uns regelmäßig und wissen, jeder Tag ist ein Geschenk.
Meine Freundin hat keinen Abschied gegeben. Ich will mir Zeit für den Abschied nehmen. Auch wenn unsere Beziehung lose war am Ende, wir kaum Kontakt pflegten. Sie war meine Freundin. Eine andere Bezeichnung würde mir nicht einfallen. Sie gehört zu den Erinnerungen meines Lebens. Ein Garmisch-Urlaub ohne eine Zeit bei ihr und ihrer Familie sind nicht zu denken. Grillabende, Ausflüge und Spaziergänge, Bergtouren, Ruderbootfahrten und Spielenachmittage. Familie und Freunde zogen sie immer nach Gelsenkirchen. Hier erinnert mich manches Foto an fröhliche Familienzeiten und Feste. Ihre Großtante war immer auch meine Nenn-Tante, der ich bis heute viel verdanke. Nicht nur meine Querflöte.
Uns verbindet Geschichte. Gemeinsame Zeiten. Gelebtes Leben. Erinnerungen. Mit ihr habe ich meine Zukunft erträumt. Als Mädchen darüber nachgedacht, was wir später mal machen wollen, wie wir die Haare geschnitten haben werden, was wir schön finden. Den Schreibfehler, den sie bei mir entdeckte, finde ich heute in meinem Poesiealbum im Text von ihr wieder. Heute staune ich, was aus unseren Träumen wahr geworden ist. Der Haarschnitt passt. Aber darüber hinaus ist zumindest für mich mancher Traum wahr geworden. Ich schreibe, finde Worte. Den Schwierigkeiten zum Trotz. Ich lebe meinen Leben, meinen Glauben, habe Familie.
„Krieg und Frieden“ von Tolstoi schenkte sie mir als Teeny. Gelesen habe ich den Roman damals nicht. Auch wenn das Buch zur Weltliteratur gehört, und ich mich als Jugendliche viel mit Russland und der russischen Sprache beschäftige, der Roman passte nicht in meine Zeit damals. Und doch – das Thema hat mich und uns immer begleitet. Gesellschaftlich und weltweit ist es aktuell wie zu allen Zeiten, doch näher als damals. Vielleicht wäre es heute dran den Roman zu lesen? Oder die Verfilmung zu sehen?
Erinnerungen und Emotionen – nach dem Schock flossen ein paar Tränen. Trauer? Irritation? Fragen. Was bewegt mich heute so sehr bei der Todesnachricht eines Menschen, die schon lange keine aktive Rolle mehr in meinem Leben einnahm. Zu meinem 50. hatte ich sie nicht mal mehr eingeladen. Dafür waren wir nicht mehr eng genug und unsere gemeinsame Zeit war so eigen, dass es mir nicht passend schien. Zudem hatte sie auf meine letzten Nachrichten gar nicht mehr geantwortet. Hatte sie schon länger von ihrer Krankheit gewusst? Ging es ihr gesundheitlich und in der Trauer um die eigene Mutter im letzten Jahr nicht gut? Hätte sie eine Einladung zu meinem Geburtstag gefreut? War ihr Nichtreagieren ein Ausdruck ihrer Schwäche, oder Schutz vor Erinnerungen an unsere schönen Kindheitstage und unbeschwerte Jugendzeit? Seit ihr Vater und meine Eltern starben hat das Leben und wir ja weiter Geschichte geschrieben.
Trifft mich die Nachricht so sehr, weil mit ihrem Tod wieder jemand aus meiner Kindheit zu Grabe getragen wird? Damit auch Erinnerung verblassen und die Möglichkeit genommen ist den Faden nochmal aufzunehmen, doch nochmal ins Gespräch zu kommen, sich aneinander zu freuen, miteinander zu träumen?
Ich liebe Träume. Auch solche, die von Hoffnung und Zukunft sprechen. Ich bin dankbar, dass Träume, die ich mit meiner Freundin geträumt habe, wahr wurden, weil wir gelebt haben. Leben gestaltet wurde. Wir uns selbst und unseren Träumen treu blieben, auch wenn unsere Wege sich entfernten. Heute frage ich mich, welche Träume von damals noch offen sind, welche ich neu träumen und gestalten will. Und ja, ich habe noch Träume.
I have a dream, einen Traum von Leben, im Hier und Jetzt. Und meiner Freundin wünsche ich, dass sie in Frieden ruhen kann. Ich habe eine Hoffnung fürs Leben. Hier und für alle Zeit. Wie meine Freundin ihr Leben und Sterben bedachte, wie ihr Weg mit Gott weiterging, weiß ich nicht. Ich kenne nicht ihre Fragen und Gedanken über Gott und die Welt, die sie die letzten Tage bewegten. Weiß nichts von ihrer Hoffnung und den Träumen, die sie noch vom Leben hatte. Und werde es nicht mehr erfahren.
„Königin“, so war ihr Name. Möge sie mit „Gnade und Barmherzigkeit“ gekrönt sein. Möge sie in Würde gegangen sein. Abschied genommen. Ich werde ihrer in Würde gedenken. Erinnerungen wachhalten und schreiben, so wie wir beide es zusammen erdacht haben. Gedanken des Friedens in die Welt hinaustragen.
„Rest in his presence“ steht auf der Karte, die mir heute eine Freundin vorbei brachte mit einem Blumenstrauß. Ihr hatte ich geschrieben, dass wir heute diese Todesnachricht bekamen. Sie ermutigte uns in Gottes Gegenwart zu sein. Wir waren es und lebten heute das SEIN. Den Tag nehmen, wie er ist. Und in Gottes Gegenwart sein. Von guten Mächten wunderbar geborgen – heute und in Ewigkeit. Und von Freundinnen und Erinnerungen begleitet, mitten im Leben. Hier und heute. Was für ein Tag!