In meiner Kindheit waren Erwachsene immer irgendwie Onkel und Tanten, auch wenn gar kein Verwandtschaftsverhältnis bestand. So war das auch mit Tante Dr. Eckart.
Später dann natürlich Frau Dr. Eckart, langjährige Chefärztin für Anästhesie am Rudolf Virchow Klinikum in Berlin-Wedding ... meinem Geburtsort ... Ilse Eckart, mit einer markanten Handschrift, von der mir immer das durchgestrichene I als markantes Kennzeichen in Erinnerung blieb ... sie ist gestorben ... im hohen Alter von 94 Jahren, nach sehr kurzer, schwerer Krankheit, wie mir ein Freund berichtete, der sie gut kannte.
Und da sind sie wieder ... all die Erinnerungen, all die Gefühle. Die Dankbarkeit, der tiefe Respekt, die Geschichte, die sich ganz im Stillen, ganz unaufgeregt, unaufdringlich und von der Öffentlichkeit unbemerkt entfaltete - in Erinnerungen und Erzählungen meiner Mutter, in eigenem Erleben als Kind und noch einmal vor gar nicht allzu langer Zeit in persönlicher Korrespondenz mit ihr. Eine Geschichte, die ich gerne erzähle, die einfach erzählt werden will.
Als meine Mutter schwanger mit mir war, hätte sie eigentlich kein Kind bekommen sollen. Erstens war sie unverheiratet (ja, manche nannten sie auch konsequent Fräulein Bochmann), zweitens war sie viel zu alt (mit 28 Jahren galt sie Ende der 50er Jahre als Spätgebärende), drittens - und das war entscheidend - war sie viel zu krank. Eine schwere Hepatitis ließ die Ärzte für Wochen und Monate um das Leben der Mutter kämpfen, die als Schwangere quittegelb (wie sie es selbst später beschrieb) im Krankenhaus lag, zusätzlich mit Asthma und Allergien ausgestattet, ein damals recht unbekanntes Krankheitsbild. Da war eine Schwangerschaft alles andere als hilfreich. Mit unter 50kg, die die Hochschwangere auf die Waage brachte, war für die Ärzte klar, dass das Kind ohnehin nicht lebensfähig sein würde - falls durch ein Wunder doch, dann nur schwerstbehindert. Also empfahl man ihr, das Baby "wegmachen" zu lassen, um ihr Leben zu retten, die Heilungschancen zu erhöhen. Meine Mutter - die als Krankenschwester sehr wohl die Argumente der Ärzte zu deuten wusste - wollte nicht. Sie wollte ihr Kind.
Und hier kommt Dr. Ilse Eckart, eine noch recht junge, quirlige Stationsärztin ins Spiel. Sie hat als einzige meine Mutter in ihrer aberwitzigen Entscheidung, das Kind zu behalten, unterstützt, bot für den Fall einer gemutmaßten Nottaufe die Patenschaft an (okay, in der Freikirche, der meine Mutter zu der Zeit schon angehörte, werden keine Kleinkinder getauft) und versprach, sich um mich zu kümmern, sollte bei der Geburt etwas schief laufen ... und setzte durch, dass das Kind nicht weggemacht wurde.
Der Tag der Geburt kam.... Wehen - Stunde um Stunde. Die Ärzte runzelten die Stirn .... das Baby kann bei dem Gewicht der Mutter nichts wiegen, wieso ist die Geburt so schwer? Vollnarkose (ja, so war das damals). Zange. Ich kam zur Welt. Kerngesund. Völlig normales Geburtsgewicht. Ende gut, alles gut... Ende? Wieso Ende? Das war erst der Anfang der Geschichte.
Noch bevor meine Mutter wach wurde, war ich schon in ein Kinderkrankenhaus abtronsportiert worden - auch aufgrund des Krankheitsbildes der Mutter. Durch ein Kommunikationsproblem erzählte eine Krankenschwester meiner Mutter, ihr Kind sei taub (also doch behindert). Wie eine Furie kam Frau Dr. Eckart zu meiner Mutter hereingestürmt... Wer denn einen solchen Blödsinn behauptet habe, wollte sie wissen. Ich sei selbstverständlich nicht taub, sondern kerngesund. Meine Mutter erzählte später, dass sie ohne diesen Temperamentsausbruch geglaubt hätte, die Ärztin wolle sie nur vertrösten. Quatsch ... das Kind ist gesund. Und als wolle sie es beweisen, fuhr Dr. Eckart ins Kinderkrankenhaus und machte Fotos vom Sohn ihrer Patientin (selbstverständlich ganz normale Kassenpatientin). Diese Bilder waren der erste Blick, den meine Mutter auf mich bekam.
Und die Geschichte geht weiter... Diese Ärztin half beim Start ins Familienleben, besuchte ihre Patientin auch zu Hause (als Krankenhausärztin). Auch wenn sie - mangels Kindertaufe - nicht Patin für mich wurde, so ließ sie es doch nicht nehmen, ihren Andreas jedes Jahr während der gesamten Kindheit und frühen Jugend zum Geburtstag zu besuchen, zu beschenken - einfach nach ihm und seiner Mutter zu sehen. Diese Erinnerung muss detaillierter ausgeführt werden, um zu wissen, was das heißt: Diese inzwischen vielgefragte und vielbeschäftigte Chefärztin, die selbst am 24. Dezember nicht nur Heiligabend, sondern den eigenen Geburtstag feierte, machte sich an jedem 1. Weihnachtstag auf den Weg, fuhr quer durch Berlin von Dahlem nach Reinickendorf, um einen Jungen zu sehen, mit dem sie eigentlich nichts verband, als die Tatsache, dass sie sich vorgeburtlich - wider alle ärztlich Vernunft - für sein Leben einsetzte, indem sie ihre Patientin in dem Wunsch unterstützte, das Kind nicht abzutreiben.
Als ich mit etwa 10 Jahren für einen kleinen Eingriff ins Krankenhaus musste, hat sie die Narkose übernommen. Noch heute weiß ich, dass ich nichts weiß ... wenn ich an die Narkosespritze denke. Der Einstich war einfach nicht zu spüren - so sehr ich auch aufpasste. Für einen weiteren Eingriff - ein paar Monate später - arrangierte sie eine Behandlung durch ihren Mann, der an einer anderen Berliner Klinik als Chirurg arbeitete... Und - vermutlich möglich durch ihren Chefarzt-Status und ihre Reputation fuhr zum Krankenhaus ihres Mannes, um auch dieses Mal die Narkose für mich einzuleiten.
Ja, so war sie - Frau Dr. Ilse Eckart - die ich in späterer Kindheit und Jugend auch ein paar mal in ihrem Zuhause besuchen durfte. Da war ich als Kind schwer beeindruckt: sie gehörte zu den ersten Deutschen mit einem Farbfernseher! Und dabei war sie durchaus nicht verschwenderisch, eher resolut. Ihre Familie wollte einen Swimmingpool? Na, dann musste eben alle gemeinsam ein entsprechendes Loch buddeln! (Und ja, es war ein riesiger Pool - ein Traum). Oft hat mich die Frage bewegt, was Frau Dr. Eckart motiviert hat. Gerne würde ich berichten: ein tiefer christlicher Glaube... Sie hätte sich selbst wohl eher als Humanistin beschrieben. Gerührt war ich, als ich erfuhr, dass sie sogar noch das Grab meiner Mutter besuchte.
Als ich wieder Kontakt zu ihr bekam und ihr ein wenig berichtet, was aus ihrem Schützling geworden ist, hatte sie bereits Mann und Tochter verloren. Sie klagte nicht, sondern freute sich über den Bericht und erinnerte sich in einem langen handschriftlichen Brief an die alten Zeiten, in denen der Ehrentitel vor Dr. noch "Tante" lautete.
Mit Tränen nehme ich Abschied von einer großartigen, beeindruckenden Frau, einem Menschen der Menschsein fröhlich und ernstgemeint lebte und darin mir als Christen Vorbild ist und bleiben wird.